Das Sujet der im traditionellen Stil der Kamakura-Zeit gemalten Bildrolle beruht auf einem Ereignis, das in der um 1220 niedergeschriebenen Kriegsgeschichte Heike monogatari von einem heute unbekannten Autor geschildert wird. Es gilt als berühmtestes Prosawerk jener Epoche und schildert die Niederlage der Taira gegenüber den Minamoto am Ende der Heian-Zeit (1180 - 1185). Bei dem dargestellten Reiter handelt es sich um den Heerführer Taira no Tadanori (1144 - 1184), einen Nachkommen des japanischen Kaiserhauses. Sein Bruder Taira no Kiyomori (1118 - 1181) kontrollierte, seitdem er 1167 Großkanzler wurde, die Regierung und errichtete eine auf die Krieger gestützte Diktatur. Gegen diese Politik formierte sich eine Adelsopposition, an deren Spitze die verfeindeten Minamoto standen. Tadanori erkannte als einer der Ersten den beginnenden Untergang der Taira nach dem Tod seines Bruders und ergriff mit einem kleinen Gefolge die Flucht aus der Kaiserstadt Kyoto. Während des Rückzugs suchte er seinen Lehrer Fujiwara no Toshinari (auch: Shunzei, 1114 - 1204) auf, der einer einflußreichen Familie entstammte und als berühmtester Dichter jener Zeit galt. Dieser Besuch wird auf dem Bild der Hängerolle mit dem Anklopfen an das Tor des Lehrers gezeigt. Tadanori, der sich wie viele Adlige mit Kunst, Poesie und Naturbeobachtung beschäftigte, wollte sich jedoch nicht nur bei Shunzei verabschieden. Er wußte, daß sein Lehrer, der die ästhetische Auffassung des ›yugen‹ (der mysteriösen Stille) vertrat, die vom ehemaligen Kaiser beauftragte Anthologie Senzai wakashû kompilierte und bat jenen bei dem Besuch um die Aufnahme eines seiner Gedichte. Wahrscheinlich standen sie auf der Schriftrolle, die der Reiter in der linken Hand hält. Shunzei wählte auch einige Verse von Tadanori aus, nahm sie aber unter der Rubrik ›von unbekannten Dichtern‹ in das Werk auf. Tadanori starb während des Gempeikrieges (1180 - 1185), aus dem die Minamoto als Sieger hervorgingen und daraufhin das erste Shogunat gründeten, jene Regierungsform, die bis 1868 Bestand hatte. Erstmals in der Geschichte Genpei seisuiki illustriert, diente das dargestellte Motiv in späterer Zeit als Vorlage für Holzschnitte und für Aufführungen der verschiedenen Theatergattungen. Während der Meiji-Zeit konnte mit dem Aufgreifen dieser historischen Thematik auf die vor sich gehenden Veränderungen und Umwälzungen angespielt werden. Hängerollen zierten im japanischen Haus oftmals den ›Altar der Schönheit‹ (Toko-no-ma), eine Nische, neben der das Oberhaupt der Familie oder der Gast Platz nahmen. Unabhängig davon gehörten sie zum beliebten Objekt europäischer Sammler. [Doreen Winker]
Provenienz: Testamentarische Schenkung von Hermann Schilling (1859-1949)